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Colonial narratives revisited: Historiographischer Revisionismus in portugiesischen und lusoafrikanischen Filmtexten

Jahrestage und Jubiläen geben nicht nur Anlass, den großen Errungenschaften der Vergangenheit zu gedenken. Vielmehr sind sie als Anstoß zu sehen, eine tiefgreifende Revision gefestigter historischer Narrative vorzunehmen, den erinnerungspolitischen Diskurs neu zu denken und das kollektive Gedächtnis im Hinblick auf die soziopolitischen Umbrüche und Diskontinuitäten der vergangenen Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zu überprüfen. So wurde etwa im aktuellen Kontext des 50. Jahrestages der Nelkenrevolution 2024 der Beginn des antifaschistischen Aufstands in Afrika verortet und damit die federführende Rolle der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen beim Niedergang von Diktatur und Kolonialherrschaft ins Zentrum gerückt (u. a. Simões do Paço et al. 2019). Diese Einforderung eines grundlegenden Perspektivwechsels verweist zugleich auf die allgemeine Notwendigkeit einer kontinuierlichen Reevaluierung der transnationalen Geschichte sowie ihrer Vermittlung als Vorbedingung ihrer Verarbeitung.

Denn trotz der zunehmenden Inklusion historisch marginalisierter Stimmen im Zuge des postcolonial turn oder auch des transdisziplinären memory booms tragen gesellschaftliche Strukturen, kulturelle Normen, kognitive Dissonanzen in Bezug auf die nationale Identität oder auch eine verstärkte “Erinnerungskonkurrenz” (cf. Rothberg 2009; Lim & Rosenhaft 2021) nach wie vor zur Perpetuierung vorherrschender Narrative bzw. einer Widerstandshaltung gegenüber der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe und seinen fortwährenden Folgen bei. Angesichts einer solchen diskursiven Stagnation scheint es daher fruchtbar, alternative Formen der Geschichtsvermittlung abseits der traditionellen Historiographie zu priorisieren, die bisher marginalisierte Erzählungen und Ausdrucksformen ins Zentrum rücken und die entscheidende Rolle des Geschichtenerzählens – und damit auch von Fiktionalität – für die Verarbeitung von Erfahrung und den Prozess der Sinnstiftung im Akt des Rezipierens instrumentalisieren (cf. Iser 1991, White 1988).

Hierbei leistet Film als ein in jeder Hinsicht hybrides Medium (cf. Greiner & Wahl 2023) einen wesentlichen Beitrag, indem er mithilfe medienspezifischer narrativer und ästhetischer Darstellungsstrategien die Inszenierung und Verflechtung diverser Zeitschichten, Stimmen, Medien, Ausdrucksformen, Genres, Erinnerungszugänge und -generationen ermöglicht und so als Resonanzraum für polyphone, teilweise konkurrierende Lesarten der Vergangenheit fungieren. Gleichzeitig wird durch die filmische Selbstreferenzialität ein metamedialer Diskurs eröffnet, der die Konstruiertheit und narrative Strukturierung jeglicher Form von Geschichte, Geschichtsschreibung und Gedächtnis hervorhebt und damit auch die Relevanz innovativer theoretischer Ansätze, darunter etwa Hayden Whites Konzept der Historiophotie (1988), für die Dezentralisierung des historischen Diskurses verdeutlicht. Insbesondere im Kontext postkolonialer Gesellschaften wird so durch die fiktionale Inszenierung alternativer Formen der Wissens- und Vergangenheitsvermittlung – anstelle tradierter historiographischer Überlieferungen – ein Beitrag zur notwendigen Überprüfung und Neubewertung des kollektiven Gedächtnisses und seiner Repräsentationen geleistet (cf. Rosenstone 1988 & 2020, Erll & Nünning 2004).

Die Sektion zielt darauf ab, anhand von ausgewählten Beispielen den Beitrag von Filmtexten zur Erweiterung des Geschichts- und Erinnerungsdiskurses im lusoafrikanischen Kontext zu diskutieren. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Film als alternative, gar subversive Form der Geschichtsvermittlung die Dekolonialisierung von Diskursen, Konzepten und letztlich Machtkonstellationen vorantreiben kann? Mit welchen Mitteln schaffen filmische Erzählungen Räume, in denen gefestigte Narrative und kollektives Gedächtnis, insbesondere aber auch deren Konfiguration und Konstruktion, einer Revision unterzogen werden können? Wie werden dadurch auch Mechanismen des Verdrängens und Verschleierns, der Ikonisierung von Fremd- und Selbstbildern, der Konsolidierung binärer Oppositionen etc. fassbar gemacht und wie wird ihnen entgegengewirkt? Welcher Mehrwert ergibt sich für die Geschichtsvermittlung durch den Einsatz fiktionaler Erzähl- und Darstellungsverfahren, insbesondere in Verbindung mit dokumentarischen Techniken und/oder Belegen (Fotos, Tagebücher etc.)? Wie werden diverse transmediale, transnationale und transkulturelle Verflechtungen inszeniert und welche Funktion übernehmen sie bei der Revision von Geschichte und Gedächtnis?

Willkommen sind Beiträge, die die vorgeschlagenen Fragestellungen und Ideenlinien – gerne anhand konkreter Untersuchungsgegenstände aus Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Kap Verde, São Tomé und Príncipe – aus einer medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektive in Bezug auf portugiesische und lusoafrikanische Filmtexte beleuchten.

 

Bei Interesse schicken Sie eine Zusammenfassung ihres Themenvorschlags (ca. 150 Wörter) inkl. Arbeitstitel bis zum 30. April 2025 an die Organisatorinnen:

Kathrin Sartingen: kathrin.sartingen@univie.ac.at

Sophie Everson- Baltas: sophie.baltas@univie.ac.at

Ana Carolina Torquato: ana.torquato.guerios@univie.ac.at



Auswahlbibliographie

ASSMANN, Aleida. 2021. Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck.

ERLL, Astrid & NÜNNING, Ansgar (2004). Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin, New York: De Gruyter.

GREINER, Rasmus & WAHL, Chris. 2023. Audiovisual History. Film als Quelle und Historiofotie. Berlin: Bertz + Fischer.

ISER, Wolfgang. 1991. Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

KASTNER, Jens. 2020. Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika. Einführung und Kritik. Münster: Unrast.

LANDSBERG, Alison. 2004. Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York: Columbia University Press.

LIM, Jie-Hyun & ROSENHAFT, Eve. 2021. Mnemonic Solidarity. Global Interventions. Cham: Springer.

MIGNOLO, Walter D. 2012. Local Histories / Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton University Press: Princeton.

ROSENSTONE, Robert A. 1988. “History in Images / History in Words: Reflections on the Possibility of Really Putting History onto Film”. The American Historical Review, 93(5), 1173–1185.

ROSENSTONE, Robert A. (ed.). 2020. Revisioning History: Film and the Construction of a New Past. Princeton University Press: Princeton.

ROTHBERG, Michael. 2009. Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford: Stanford University Press.

SIMÕES DO PAÇO, António (et al.) (eds.). 2019. O 25 de Abril começou em África. Ribeirão: Edições Húmus.

WHITE, Hayden. 1988. “Historiography and Historiophoty”. The American Historical Review, 93(5), 1193–1199.



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