Romanistik
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Sektionsbeschreibung

Revisionen / Re-präsentationen politischer Gewalt in den Literaturen Portugals und Brasiliens: Erfahrung, Erinnerung, Reparatur

Diese Sektion beleuchtet literarische Bearbeitungen von post-kolonialen und post-diktatorialen Gewalterfahrungen in Portugal und Brasilien. Im Zentrum steht dabei vor allem die zeitlich distanzierte ‚Revision’ von Zuständen politischer Gewalt (etwa in transgenerationeller Perspektive) in Werken der unmittelbaren Gegenwartsliteratur des 21. Jahrhunderts. In den letzten Jahren wurde politische Gewalt in der Literatur vor allem unter dem Aspekt der Einschreibung schmerzvoller Erinnerungen in das kollektive Gedächtnis betrachtet. Die memory studies haben hierfür ein breites Handwerkszeug zur Verfügung gestellt. Die Auseinandersetzung im Rahmen der hier vorgeschlagenen Sektion fragt jedoch weniger nach der archivarischen Funktion der Texte als vielmehr nach den hermeneutisch-ethischen Implikationen: Was bedeutet es überhaupt, Gewalt mit Mitteln der Literatur darzustellen? Wohnt nicht jeder Gewaltdarstellung immer auch ein inhärenter Voyeurismus inne? Was ist die ethische Aufgabe von Literatur und welche ästhetischen Mittel gibt es, dieser nachzukommen (vor allem in Bezug auf Gewaltdarstellungen)? Dabei geht es in erster Linie darum, ästhetische Prozesse der Vermitteltheit herauszuarbeiten, deren unterschiedliche Funktionen (auch) durch die zeitliche Distanz der Texte zu den geschilderten Geschehnissen bedingt sind.

In der portugiesischsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Texte, die sich mit politischer Gewalt und Staatsterror im Laufe des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Der portugiesische Kolonialkrieg (bzw. die Unabhängigkeitskriege der PALOP) wurde in der portugiesischen Literatur schon früh thematisiert, sei es bei Antonio Lobo Antunes oder João de Melo. Texte jüngerer Autor:innen wie etwa Persona (2000) von Eduardo Pitta oder Baía dos tigres (2000) von Pedro Rosa Mendes unterziehen diese Erfahrungen in mehrfacher Hinsicht einer kritischen Revision: Die Wunden, die durch Salazars Diktatur und den Kolonialkrieg entstanden sind, und über die lange Zeit ein Schleier des Schweigens gelegt wurde, werden noch einmal literarisch geöffnet und in die nationale Debatte eingebracht. Auch portugiesische Comics/graphic novels setzen sich in der letzten Zeit verstärkt mit der Person Salazar und seinen Kriegen in Afrika auseinander, beispielsweise Cinzas da Revolta (2012) von Miguel Peres und Jhion; Os Vampiros (2016) von Filipe Melo und Juan Cavia; Filhos do Rato (2019) von Luís Zhang und Fábio Veras oder Salazar, Agora na Hora Da Sua Morte (2006) von Miguel Rocha und João Paulo Cotrim.

In Brasilien wiederrum sollte es noch bis 1985 dauern, bis die 1964 etablierte Militärdiktatur ihr Ende nahm. Zahlreiche literarische Texte des 21. Jahrhunderts erinnern und vergegenwärtigen die Zeit des Staatsterrors während der Diktatur aus rückblickender oder transgenerationeller Perspektive. Eine solche Re-vision der Ereignisse von politischer Gewalt, Folter und Diktatur findet sich etwa in Não falei (2004) von Beatriz Bracher, Retrato calado (2012) von L. Roberto Salinas Fortes; K. Relato de uma busca (2014) von Bernardo Kucinski, Ainda estou aqui (2015) von Marcelo Rubens Paiva oder jüngst Avenida Beberibe (2024) von Claudia Cavalcanti.

Im Gegensatz zu anderen Darstellungsformen ist Literatur oft mit der Dimension der unmittelbaren Erfahrung von politischer Gewalt befasst, wobei deren literarische Re-präsentation drängende ethische Fragen über Verantwortlichkeit sowie das „Leiden der Anderen“ aufwirft (Arendt; Falke et al.; Rothberg; Sontag).* Aus diesem Grunde möchte die Sektion nach den ethischen, ästhetischen und narratologischen Implikationen und Konsequenzen für die Gegenwart fragen, wie sie sich aus der literarischen Revision von historischer Gewalterfahrung ergeben—zwischen Erfahrung, Erinnerung und „Verarbeitung“ oder Reparatur. Mögliche Fragen für die Sektionsarbeit sind:

Welche narratologischen, rezeptionsästhetischen, affektiven und ethischen Fragen und Probleme ergeben sich bei der vermittelten Re-präsentation und Revision der Erfahrung von ‚Szenen‘ politischer Gewalt im Kontext von (Kolonial-)krieg und Diktatur?

Welche Gattungen (Horror, Testimonien, Autofiktion usw.) werden hierzu benutzt und wie bestimmen sie die Art und Weise der Thematisierung/Darstellung von Gewalt (inklusive Leerstellen, Andeutungen)?

Welche Formen von Gewalt (alltägliche Gewalt, militärische Gewalt, spektakuläre Gewalt) gilt es zu unterscheiden—und wie wirken die Revisionen/Reparaturen dieser Erfahrungen über den historisch situierten Zeitpunkt hinaus?

Inwiefern wohnt Literatur über die oben erwähnten Darstellungsweisen möglicherweise auch ein Potenzial für Heilung inne?

In welches (literatur-)historische, textuelle Archiv schreiben sich moderne Darstellungen politischer Gewalt ein, auf welche intertextuellen Bezüge wird zurückgegriffen?

 

Bitte senden Sie eine kurze Beschreibung Ihres Beitrags (max. 300 Wörter inkl. Arbeitstitel) sowie eine kurze Darstellung des akademischen Werdegangs (max. 150 Wörter) bis 30. April 2025 an Jobst Welge (jobst.welge@uni-leipzig.de) und Janek Scholz (janek.scholz@mail.huji.ac.il).

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*Arendt, Hannah. On Violence. 1970; Falke, Cassandra; Fareld, Victoria; Meretoja, Hanna. Interpreting Violence. Narrative, Ethics and Hermeneutics. London, 2023; Rothberg, Michael. The Implicated Subject. Beyond Victims and Perpetrators. Stanford, 2019; Sontag, Susan. Regarding the Pain of Others. London, 2003.


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